
Gerd Wolfgang Sievers ist nicht nur Koch, der sein Handwerk bei verschiedenen Spitzenköchen Deutschlands erlernt hat. Als Autor hat er rund 35 Bücher geschrieben, darunter viele Titel zur Kulinarik und Italien. In seinen aktuellen Büchern „La Cucina Veneziana“ widmet er sich den vielen Geschichten und Gerichten der venezianischen Regionalküche. Es sind keine oberflächlichen Rezeptsammlungen, sondern Sievers blickt anekdoten- und kenntnisreich in die Geschichte und Kultur Venedigs, die die Küche tief geprägt haben. Ein Interview mit Gerd Wolfgang Sievers über den Mythos der Serenissima, den Geschäftssinn der Venezianer und ihren Erfolg, sich gegen die Italienisierung der Regionalküche zu wehren.
Was ist dran am ausschweifenden und dekadenten Venedig? Wie sehr ist es Mythos, wie sehr Realität?
Mit Mythos hat das nichts zu tun, das war ein beinhartes Geschäft. Als Venedig durch die Entdeckung der Gewürzroute durch Vasco da Gama den Gewürzhandel verloren hat, hat es nach neuen Geschäftsfeldern gesucht. Und schon im 17. Jahrhundert entdeckt, dass man mit Tourismus und Attraktionen viel Geld verdienen kann. Zu der Zeit wurden Prostitution und Glückspiel plötzlich populär und auch vom Staat initiiert, um die Staatskasse zu füllen. Parallel zu Paris hat Venedig eine Restaurantkultur entwickelt, die ihresgleichen suchte. Die ersten Restaurants mit gedeckten Tischen hat man aus Ferrara übernommen, aber dann noch einen draufgesetzt mit Bordellen oder Casinos. Seitdem lebt Venedig mehr oder weniger vom Tourismus.
Obwohl Venedig mit dem Gewürzhandel zu Macht und Reichtum aufgestiegen ist, wurde der venezianischen Küche lange nachgesagt, etwas fad und salzarm zu sein. Trifft dieses Vorurteil heute noch zu?
Wenig zu salzen hat in der venezianischen Küche Tradition. Das hat zwei Gründe: Zum einen wurde schon sehr früh mit dem Salz gehandelt. Seit dem 8. Jahrhundert war der Salzhandel eine der ganz großen Säulen des venezianischen Reichtums. Zum anderen sind viele venezianischen Köche der Ansicht, dass Salz den Geschmack kaputtmacht. Das ist eine Eigenheit der venezianischen Küche, die man durchaus als regionaltypisch bezeichnen kann. In der Toskana wird zum Beispiel sehr viel kräftiger gesalzen als im Rest Italiens. Dort ist Salz ein sehr dominantes Thema. Vielleicht hängt es auch mit klimatischen Bedingungen zusammen, aber in der venezianischen Küche ist es eher eine Philosophie. Die Venezianer würden auch selten auf die Idee kommen, einen Fisch in Salzkruste zu machen.
Venedig war erst selber den eigenen Machtraum stark ausgedehnt und ist später nach dem Niedergang Spielball anderer Mächte gewesen. Was hat denn in all den Jahrhunderten in der venezianischen Küche am meisten Spuren hinterlassen?
Spuren haben viele hinterlassen. Aber am deutlichsten sind die aus den ehemaligen Provinzen. Zypern, Kreta, Peleponnes – die griechischen Einflüsse sind ganz deutlich bis heute bemerkbar. Einflüsse aus Byzanz, zu dem Venedig viele Jahrhunderte gehört hat, sind überhaupt nicht wahrzunehmen. Das ist offenbar gänzlich ausradiert, auch aus dem Geschichtsbewusstsein. Aber auch die Einflüsse der spanischen Levante und der sephardischen Juden sind ebenfalls noch spürbar. Und lustigerweise auch die der Habsburger aus dem 19. Jahrhundert. Die sind immer noch präsent, in der Liebe zum Schweinsbraten zum Beispiel.
Wie stark ist die venezianische Kochtradition bedroht von der Italienisierung der regionalen Küchen?
Die italienische Küche ist eigentlich nur bemerkbar in den Lokalen, die Touristen ansprechen, aber in der venezianischen Küche ansonsten gar nicht. Die Venezianer essen im Vergleich zum restlichen Italien kaum Pizza oder Pasta, sie bleiben im privaten Bereich einer eher fleischlastigen Küche treu. Mehr Einflüsse gibt es eher aus dem Veneto und dem Friaul, weil sich einige Winzer in der Lagune angesiedelt haben und dort Wein machen. Sie bringen Zutaten aus ihren Regionen mit. Aber aus dem Süden Italiens kommt gar nichts. Das hängt auch politisch damit zusammen, dass sich die Venezianer als eigene Republik sehen. Die halten überhaupt nichts vom Risorgimento, der Vereinigung Italiens. Sie würden, wenn sie es könnten, sofort die Republik ausrufen und sich von Italien trennen.
Sind die Venezianer ein bisschen die Bayern Italiens?
Nein, das nicht, aber stur und verbrämt in ihren Strukturen sind sie schon.
Sie stellen relativ viele Rezepte und Gerichte vor, die weniger bekannt sind. Geht es Ihnen auch darum, die Tradition der Küche zu bewahren?
Es war mir immer ein Anliegen, Rezepte zu fördern und zu bewahren. Wenn man weiß, warum ein Gericht in einer Region auf diese oder jene Art gekocht wird, dann fügen sich Geschichten ineinander und es macht einfach irrsinnigen Spaß, weil man auch sein persönliches Wissen dadurch bereichert. Aber es geht mir auch darum, den Venedig-Reisenden zu zeigen, dass das, was sie in Venedig essen, oft nichts mit venezianischer Küche zu tun hat. Es gibt aber Lokale, die die Regionalküche zelebrieren und dort kann man die Gerichte essen und den eigenen Horizont erweitern.
Haben Sie ein venezianisches Lieblingsgericht?
Als Kind mochte ich den Fritto Misto am liebsten, aber das ist kein typisch venezianisches Gericht. Es gibt Speisen, die ich in Venedig immer wieder gerne esse, aber es ist nicht das eine, großartige Lieblingsgericht darunter. Ein paar Sarde in Saor können genauso gut sein wie ein paar Kutteln zum Mittag. Das ist von der Stimmung, dem Zeitpunkt des Tages oder der Situation abhängig.
Bei einigen Gerichten wurde über die Jahre viel experimentiert und weiterentwickelt – zum Beispiel bei den Fritole, dem venezianischen Schmalzgebäck. Wo verläuft die feine Linie zwischen Tradition und Innovation?
Natürlich ändern sich Zutaten, gerade bei Backwaren. Die Mehle werden feiner gesiebt und es hat sich technologisch viel getan. Vieles hat sich verfeinert und weiterentwickelt. Aber man kann schon erahnen, wie es früher geschmeckt hat. Und man kann es nachvollziehen, indem man zum Beispiel rustikalere Mehlsorten verwendet. So kann man den persönlichen Geschmack erweitern und erkennen, dass die feinen Backwaren nicht immer so fein waren, wie sie heute wirken.
Aber wann kann sich ein Rezept dann noch venezianisch nennen? Wann verliert es seinen originalen Charakter?
Da würde ich keine ganz enge Linie ziehen. Auch Venedig hat dazugelernt und gerade beim Schmalzgebäck ganz viel von den Österreichern übernommen. Das Schmalzgebäck ist gar nicht so typisch venezianisch, wie es gerne dargestellt wird. Die Häufigkeit der Verwendung dagegen schon. Das liegt aber daran, dass es ein typisches Karnevalsgebäck ist und dass die Venezianer den Karneval teilweise das ganze Jahr gefeiert haben. Sie hatten gemerkt, dass man sich mit dem Karneval die Taschen wieder vollfüllen kann.
Finden Sie es traurig oder bedauerlich, dass in Venedig das Geschäft so regiert?
Nein, denn die Stadt hat sich selbst nie so idealisiert, wie es Touristen gerne machen. Wenn man in der Stadt lebt und merkt, wie hart es ist, dort den Winter zu überstehen, dann ist schnell klar, weshalb die Venezianer so sind, wie sie sind. Ich habe volles Verständnis dafür. Die Venezianer dürfen mit ihrer Stadt machen, was sie wollen. Es ist ihre Stadt, ihr Lebensraum. Venedig hat in den letzten 30 Jahren so viel Positives gemacht – die Kanäle sind sauber, es gibt eine Abwasseranlage, Gas und Strom in allen Häusern. In den Achtzigern hatte noch jeder zweite Haushalt keinen Stromanschluss. Ich will mal diese ganzen Nörgler sehen, wenn die im Winter ohne Heizung in Venedig in einer klammen, feuchten Wohnung sitzen müssten. Ich glaube, dass heute kein Mensch mehr so leben möchte. Und ich finde es boniert, wenn heute gesagt wird, die Venezianer dürfen mit ihrer Stadt keine Geschäfte machen. Warum nicht? Die Berliner und Kölner dürfen es doch auch! Und den Venezianer verbietet man es, nur weil sie eine Illusion aufrechterhalten sollen?
Die Venedig-Bücher
La Cucina Veneziana La Cucina Veneziana II
Gerd Wolfgang Sievers
„La Cucina Veneziana – Küchengeheimnisse Venedigs vom Centro Storico bis in die Lagune“
(Braumüller)
ISBN 978-3-99100-227-7, 352 Seiten, € 25
Gerd Wolfgang Sievers
„La Cucina Veneziana II – Küchengeheimnisse Venedigs vom Centro Storico bis in die Kolonien“
(Braumüller)
ISBN 978-3-99100-272-7, 184 Seiten, € 21
Gerd Wolfgang Sievers Gastrezept
Baccalà mantecato nach Wolfgang Sievers
Zutaten
- 1 Stockfisch
- 1 Lorbeerblatt
- 1-2 Zehen Knoblauch
- Salz
- 1 Zitrone
- Olivenöl vorzugsweise ein Öl vom Gardasee
- Pfeffer
Zubereitung
- Der sonnengetrocknete Fisch (meist Kabeljau oder Dorsch) kann zunächst mit einem Fleischklopfer bearbeitet werden und muss anschließend 2-3 Tage gewässert werden; dabei sollte man das Wasser immer wieder erneuern. (In Venedig kann man gewässerten Stockfisch bereits küchenfertig kaufen.)
- Den gewässerten Stockfisch von Gräten und Haut befreien, danach nochmals waschen. Den Fisch in einem großen Topf mit kaltem Wasser, einem Lorbeerblatt, Knoblauch, etwas Salz und einer halbierten Zitrone aufsetzen. Zum Kochen bringen, die Hitze zurücknehmen und den Fisch 10 Minuten garen lassen. Den Fisch herausnehmen und von allen verbliebenen Unreinheiten, Gräten und Hautresten befreien. Das Kochwasser durch ein feines Sieb seihen.
- Das sauber filetierte Fischfleisch in Stücke schneiden und in einer Schüssel mit einigen Esslöffen Kochwasser und ein wenig Olivenöl verrühren (dafür einen Holzlöffel verwenden). Nach und nach (wie bei einer Mayonnaise) das Olivenöl einarbeiten und das Ganze mit einem Schneebesen zu einem cremigen Püree verarbeiten. Man wird mindestens die gleiche Menge Öl einarbeiten (manche Köche nehmen bis zu dem 1,5-fachen), als man Fischgewicht hat.
- Das fertige Fischpüree (es sollte cremig und weiß sein, aber auch kleine Fischstücke beinhalten) mit Pfeffer aus der Mühle und Salz würzen – eventuell noch etwas Kochwasser einarbeiten.
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