Der reiche Kaufmann und Feinschmecker Pellegrino Artusi gilt als Begründer der italienischen Küche. Sein Kochbuch „La Scienza in Cucina e l’Arte di Mangiar Bene“ wurde erstmals 1891 veröffentlicht. Es ist eine Sammlung von knapp 800 traditionellen italienischen Rezepten, die Artusi während seines Lebens zusammengetragen und ausprobiert hat. Bis heute zählt es zu den wichtigsten Werken über die italienische Küchenkultur. Die deutsche Ausgabe mit dem Titel „Die klassische italienische Kochkunst“ war zuletzt seit Jahren vergriffen. Das hat sich jetzt endlich geändert.
Pellegrino Artusi wurde 1820 in Forlimpopoli geboren, einem kleinen Dorf in der Emilia-Romagna. Als erfolgreicher Seidenhändler und mit dem Vermögen der Eltern konnte sich Artusi schon früh zur Ruhe setzen. Obwohl er nie eine formale Ausbildung in der Kulinarik hatte, widmete er sich leidenschaftlich dem Kochen. Zusammen mit seinen zwei angestellten Köchen experimentierte er mit verschiedenen Zutaten und Küchentechniken.
Sein Interesse an der Küche führte ihn dazu, Rezepte zu sammeln und schließlich ein eigenes Kochbuch zu schreiben. Seine Rezeptsammlung deckt die unterschiedlichen Gerichte der italienischen Küche ab, darunter Suppen, Pastagerichte, Fischgerichte und Desserts. Es enthält auch eine Einführung, in der Artusi seine Philosophie der Küche erklärt und den Lesern grundlegende Tipps für gesundes Essen und zur Zubereitung von Mahlzeiten gibt.
Artusis Kochbuch – ein Beitrag zur Einheit Italiens
Artusis Buch gilt heute neben dem „Silberlöffel“ als die Bibel der italienischen Küche. Es hatte nicht nur große Bedeutung für die italienische Kochkultur, sondern war auch ein politisches Symbol. Seit der Gründung Italiens zwischen 1861 und 1870 haderten viele Bürger des neuen Staates mit ihrer Identität als Italiener. Kulturell waren die Italiener noch weit davon entfernt zu einem Ganzen zusammenzuwachsen. „L’Italia è fatta, gl’italiani sono ancora da farsi“ (zu Deutsch: Italien ist erschaffen, die Italiener müssen noch gemacht werden.) lautet ein berühmter Ausspruch aus der Zeit des Risorgimento.
Genau dort setzt Pellegrino Artusi an. „La Scienza in Cucina“ war das erste Kochbuch, das eine Vielzahl von regionalen Gerichten aus Italien sammelte und sie einem nationalen Publikum präsentierte. Artusi schrieb in einem klaren und einfachen Stil, der auch für Laien verständlich war. Seine Rezepte basierten nicht auf der hochtrabenden Hofküche. Stattdessen waren es bodenständige Gerichte und Hausmannskost, die der in Florenz lebende Kaufmann präsentierte.
Mit seinem Kochbuch leistete Pellegrino Artusi einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der italienischen Nationalidentität. Artusi betonte die Unterschiede zwischen den verschiedenen regionalen Küchen Italiens und hob gleichzeitig ihre Gemeinsamkeiten hervor. So half das Buch, ein Gefühl der Einheit und Zusammengehörigkeit unter den Italienern zu schaffen, indem es eine gemeinsame kulinarische Tradition präsentierte. Ein Nenner, auf den sich viele Bürger des noch jungen Landes einigen konnten. Dabei half auch, dass Artusi die französischen Bezeichnungen für Gerichte, die damals gängig und angesagt waren, durch italienische Begriffe ersetzte. Dadurch stärkte er das Selbstbewusstsein italienischer Kochkunst, die sich keineswegs hinter der französischen Kochkultur zu verstecken brauchte.
La Scienza in Cucina – Kochbuch-Klassiker mit Startproblemen
Neben der kulturellen Bedeutung hatte „La Scienza in Cucina“ auch praktische Auswirkungen auf die italienische Küche. Artusis Buch führte nicht nur viele neue Rezepte und Zutaten ein, sondern seine Beschreibungen für die Zubereitung enthielten oftmals genaue Maße. Auf diese Weise demokratisierte er die Küche, denn auch Laien konnten seine Gerichte problemlos nachkochen.
Welchen Schatz Pellegrino Artusi mit „Die klassische italienische Kochkunst“ gehoben hatte, ahnten Ende des 19. Jahrhunderts allerdings noch nicht alle. In seiner Einführung erzählt Artusi von den Schwierigkeiten, einen Verlag für sein Kochbuch zu finden. Er erhielt zahlreiche Ablehnungen und ließ schließlich die ersten Auflagen auf eigene Kosten drucken. Nach den anfänglichen Startschwierigkeiten wurde das Buch zu einem großen Erfolg und in mehrere Sprachen übersetzt. Heute zählt es zu den populärsten Kochbüchern über die italienische Küche. Bis zu seinem Tod im Jahr 1911 ergänzte Artusi jede neue Auflage und ließ das Kochbuch bis zur 15. Auflage von 475 auf 790 Rezepte wachsen. Auf dieser basiert auch die neue deutsche Ausgabe, die Ende 2022 im Christian Verlag erschienen ist. Die neue Übersetzung schließt endlich eine Lücke, denn ältere deutschsprachige Ausgaben waren zuletzt nur noch zu Mondpreisen erhältlich.
Was Pellegrino Artusi hätte besser machen können
Ganz frei von Kritik ist „La Scienza in Cucina e l’Arte di Mangiar Bene” allerdings nicht. Das Kochbuch zementierte schon früh die Ungleichheit zwischen Italiens Norden und Süden. Für viele Norditaliener gilt der Süden bis heute als rückständig. Artusi hat zwar sowohl norditalienische als auch süditalienische Rezepte in sein Buch aufgenommen, die er während seiner Reisen durch Italien gesammelt hatte. Allerdings sind die Rezepte aus dem Norden im Buch deutlich zahlreicher vertreten als die süditalienischen.
Auch wenn Artusis Bemühungen, die lokalen Kochtraditionen in einem Werk zu vereinen, nicht zu unterschätzen sind, ist „La Scienza in Cucina“ dadurch recht einseitig geraten. Das fällt gerade mit Blick auf die reiche Kochtradition Siziliens auf, die das Kochbuch nahezu vollständig ignoriert. So vernachlässigt die Dominanz der norditalienischen Rezepte die Vielfalt der süditalienischen Küche und vermittelt letztendlich eine falsche Vorstellung von der italienischen Küche. Nichts gegen die wunderbaren Rezepte aus Norditalien, aber mit seiner Auswahl hat Artusi dafür gesorgt, dass sich das Vorurteil über Italiens Süden auch in die Kochkultur eingeschlichen hat.
Alles in allem bleibt „La Scienza in Cucina“ jedoch ein wichtiges Werk der italienischen Küchenkultur und ein Symbol für die kulinarische Vielfalt Italiens. Das Werk hat maßgeblich dazu beigetragen, die kulinarischen Traditionen Italiens in einer Zeit zu bündeln und zu verbreiten, als das Land politisch und kulturell noch stark zersplittert war. Vielleicht ist es Italien bis heute nicht geglückt, die Italiener zu schaffen. Aber wenn sich die Menschen in Italien auf etwas einigen können, dann ist es ihre Kochkultur. Egal ob im Norden oder Süden des Landes: die Liebe zum Essen und zu ihrer Kochtradition ist etwas, das alle Bewohner Italiens teilen.
Pellegrino Artusi
„Die klassische italienische Kochkunst – 790 traditionelle Rezepte“
(Christian Verlag)
ISBN 978-3-95961-650-8, 572 Seiten, 49,99 €
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