In ihrem Buch „Die Gaumenfreuden des jungen Goethe“ nähert sich Laura Melara-Dürbeck Deutschlands großem Dichter und Denker mit Messer und Gabel: Sie betrachtet Goethes berühmte „Italienische Reise“ aus dem kulinarischen Blickwinkel. Was aß der Dichterfürst in Italien, wie beeinflussten diese Genüsse seine Wahrnehmung und möglicherweise sein späteres Werk? Ein Gespräch mit Laura Melara-Dürbeck über die kulinarischen Spuren in seinem Reisebericht, italienische Lebensart in Weimar und warum Goethe Nudeln vermutlich nie ‚al dente‘ gegessen hat.
Wie sind Sie auf das Thema gekommen, Goethes Italienreise aus kulinarischer Sicht zu betrachten?
Ich habe in Frankfurt vor vielen Jahren eine literarisch-kulinarische Veranstaltungsreihe namens „Porta un libro a cena“ organisiert – auf Deutsch „Bring ein Buch zum Abendessen mit“. Dort waren italienische Autoren zu Gast und zwischen den Gängen wurde aus einem Buch gelesen und mit dem Autor darüber gesprochen. Die Gäste bekamen Gerichte serviert, die entweder aus der Region des Autors stammten oder im Buch erwähnt wurden. Dort habe ich auch einmal etwas zu Goethes „Italienische Reise“ gemacht und hatte unheimlich viel Material dazu gesammelt. Als wir in den Lockdown gegangen sind und weder Reisen noch Essengehen möglich war, habe ich gesagt: Dann schreibe ich jetzt etwas über die „Italienische Reise“ von Goethe.
Wie haben Sie sich ihm genähert?
Johann Wolfgang von Goethe hat fast zwei Jahre in einem fremden Land verbracht. Es kann nicht sein, dass er nur schöne Paläste, Statuen oder Ruinen aus römischen Zeiten kennengelernt hat. Ich wollte ihn als einen normalen Menschen betrachten, der etwas essen muss, um zu überleben. Ich habe daher die „Italienische Reise“ mit Blick auf die Kultur des Essens gelesen. Goethe macht viele Beobachtungen, etwa wie die Weinberge in Italien aussehen und wie die Weinlese organisiert wird. Oder er beobachtet, dass die Frauen in der Region von Trient und Venetien eine besondere Hautfarbe haben, ein bisschen gelblich-grau. Diese Farbe führt er auf die Ernährung zurück.
Was genau schreibt Goethe darüber?
Er stellt fest, dass die Mehrheit der armen Leute sich prinzipiell mit Maisbrei, der Polenta, ernähren. Das führt tatsächlich zu einer Krankheit namens Pellagra, die bis Anfang des 20. Jahrhunderts in der ganzen Po-Ebene verbreitet war.
Die Liebe zu Italien ging durch den Kopf und nicht durch den Magen.
In der Druckfassung von Goethes „Italienische Reise“ halten sich die kulinarischen Themen in Grenzen. Warum hat Goethe Kulinarisches in der Druckfassung ausgeklammert? Galt Essen damals nicht als literarisch wertvoll?
Goethe war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Italien auf Grand Tour wie viele Adelige und Bildungsbürger zu seiner Zeit. Die Liebe zu Italien ging durch den Kopf und nicht durch den Magen. Es war ein Augenschmaus und kein Gaumenschmaus. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts hat man erkannt, dass man Essen als Thema auch anders betrachten kann. In den Zeiten, zu denen Goethe unterwegs war, hatte Essen noch nicht diese Priorität. Es war nicht üblich, darüber zu schreiben.
Trotzdem gibt es einige Stellen in Goethes Aufzeichnungen über die italienische Küche. Wo wird Goethe denn konkreter?
Als er von der Hautfarbe der Frauen im Trentino und Veneto spricht, verrät Goethe erstaunlicherweise auch Rezepte für die Polenta. Er erklärt die unterschiedlichen Zubereitungsarten nördlich und südlich der Alpen. Oder in Neapel, das sich mit dem heutigen New York, London oder Paris vergleichen lässt. Das war eine große Metropole, voll von Literaten, Philosophen und Künstlern der damaligen Welt, und war und ist einer der schönsten Teile Italiens, was das Essen anbelangt.
Welche kulinarischen Begegnungen hatte Goethe in Neapel?
Im Königreich beider Sizilien trifft Goethe auf die Pasta. Er erzählt von drei Begegnungen auf seiner Reise. Zwei davon in Neapel, wo er Pasta einmal süß und einmal salzig vorfindet. Zum einen gibt es anlässlich der Festa di San Giuseppe am 19. März sowas wie Frittelle. Das ist eine süße Pasta. Er berichtet, wie die Neapolitaner sie auf der Straße vorbereiten und verkaufen. Später erwähnt er, wie man die Maccheroni – ebenfalls als Street Food – kocht und sie als Maccheroni bianchi verzehrt. Das heißt, sie werden mit Käse und nicht in Tomatensoße serviert. Die Tomaten haben zu der Zeit, als Goethe in Neapel ist, noch keine Ehe mit der Nudel geschlossen. Er verrät auch, wie man die Nudeln kochen soll. Man müsse sie 30 Minuten lang garen und dann mit Käse essen. Eine solche Kochzeit wäre für uns heute undenkbar, aber die Zubereitung „al dente“ war damals noch unbekannt.
Wo hat er die dritte Begegnung mit der Pasta?
Das dritte Mal trifft er in Sizilien, in der Nähe von Agrigent, auf die Nudeln, als er in einer ganz einfachen Unterkunft übernachtet. Diese Unterkunft war eine Nudelmanufaktur. Goethe beschreibt, wie die junge Tochter dieser Bauern Nudeln sehr fein mit ihren Fingern formt. Und er schwärmt, er habe nie so delikate Nudeln gegessen wie in Agrigento.
Die Tomaten haben zu der Zeit, als Goethe in Neapel ist, noch keine Ehe mit der Nudel geschlossen.
Zu Beginn der Reise schreibt Goethe noch sehr wenig über Essen. Ab Neapel geht er vermehrt auf Kulinarisches ein. Was verändert sich in Neapel für ihn?
Dort passiert etwas mit Goethe. Er ist zunächst inkognito unterwegs und reist unter falschem Namen. Zunächst heißt er Johann Philipp Möller. In Rom ist daraus Filippo Möller geworden. Und in Neapel kommt er sogar als Monsieur Milleroff an. Aber der Punkt ist, dass er in Neapel plötzlich wie die Neapolitaner leben will. Er gibt sein Pseudonym auf und beginnt, in adeligen Kreisen zu verkehren. Das Wetter spielt für sein Wohlbefinden sicherlich auch eine große Rolle. Er blüht auf und beschreibt die kleinen Gassen in der Altstadt, voll mit Lebensmitteln. Ihn fasziniert, wie mehrmals wöchentlich Lebensmittel auf Karren und Kutschen in die Stadt gebracht werden, um sie dort zu verkaufen. Das ist für ihn ein Fest der Sinne. Und Goethe war sowieso immer von Märkten fasziniert – ob in Padova oder vom Fischmarkt in Rialto. Die Märkte sind für ihn bunt und fröhlich.
Das unterscheidet ihn von seinem Vater Johann Caspar, der zuvor auch auf Grand Tour war?
Sein Vater war 40 Jahre vor ihm in Neapel und war entsetzt von den Lebensmittelmärkten. Er schrieb über die wunderschönen Paläste und Architektur, aber es stinke dort überall nach Frittiertem und Öl. Das stört Johann Wolfgang von Goethe nicht. Er erwähnt diesen intensiven Geruch des Öls durch das Frittieren nicht. Er sagt nur, es wird frittiert und die Speisen sehen köstlich aus.
Goethe hatte ein Burnout und musste sich neu orientieren.
Goethe hat bereits ein halbes Jahr in Italien verbracht, als er in Neapel ankommt. Wie hat er sich in dieser Zeit verändert?
Einer der Hauptgründe, weswegen Goethe nach Italien gereist ist, war, um sich von einer tiefen Depression zu befreien. Heute würde man sagen, er hatte ein Burnout und musste sich neu orientieren. Goethe hat Weimar verlassen, weil er so eine große Blockade hatte. Er hatte den Wunsch, sich zu entfernen und sich mit einer anderen Realität auseinanderzusetzen, um vielleicht mit neuer Energie zurückzukehren. Sobald er in den Süden kommt – nach Neapel und Sizilien – ist er meiner Meinung nach befreit. Aber der Aufenthalt dort ist am Ende auch ermüdend für ihn. Er will zurück nach Rom und sagt: „Okay, jetzt bin ich reif, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren.“
Das bekannte Mignon-Gedicht mit der berühmten Zeile „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn“ hat Goethe vor seiner Italien-Reise verfasst. Wie aber haben die Erfahrungen, die er in Italien gemacht hat, seine späteren Werke beeinflusst?
Die Reise öffnet ihm neue Horizonte. Nach seiner Rückkehr produziert er fleißig literarische Werke, Theaterstücke, Romane, gründet Zeitschriften mit anderen großen Literaten und Künstlern. Ich glaube, dass diese zwei Jahre in Italien dabei geholfen haben, ihn kreativ zu befreien. Ganz sicher sind auch die römischen Elegien von seinem Italienaufenthalt geprägt. Aber die Reise hat im Allgemeinen seine Art und Weise beeinflusst, wie er danach gelebt hat. Und bestimmt auch die Wahl der Person für sein künftiges Leben. Goethe und Christiane Vulpius haben für Jahrzehnte in wilder Ehe gelebt. Sowas hätte er in Weimar vor der italienischen Reise nie gewagt.
Und was nimmt Goethe kulinarisch von seiner Italienreise nach seiner Rückkehr nach Deutschland mit?
Ich denke, auch das Essen hat Spuren hinterlassen. Sobald er in Deutschland ist, versucht er, Nudeln nach italienischer Art zu bekommen. Und tatsächlich findet er die Dresdner Nudelmühle, die ihn regelmäßig mit Maccheroni nach neapolitanischer Art beliefert. Angeblich hatte Goethe auch eine italienische Lieblingsspeise: den Stuffato, eine Art Schmorbraten. Ob das ein römischer Stuffato ist oder eine neapolitanische Variante, weiß ich nicht. Das Gericht wurde immer wieder seinen Gästen serviert. Es gibt einige Briefe von seinen Freunden und Kollegen in Weimar, die davon berichten, dass es stets angenehm war, bei Goethe eingeladen zu werden. Er war auch stolz, seinen Gästen zu zeigen, wie man Artischocken isst.
Als Pflanze und Gemüse müssen ihn Artischocken sehr beeindruckt haben. Er berichtet über das Distelgemüse gleich mehrmals in seinen Aufzeichnungen.
Er hat sie in Rom kennengelernt, wo ihn die Orti fasziniert haben. Das waren kleine Schrebergärten zwischen den Häusern, wo man wilde Artischocken finden konnte. Wenn er so begeistert davon war, dann muss er auch Artischocken gegessen haben. Dafür musste ich allerdings ein bisschen die Rezepte rekonstruieren.
Sie sammeln in Ihrem Buch Rezepte für Gerichte, von denen Sie vermuten, dass Goethe sie vielleicht probiert hat. Goethe blieb bei den Beschreibungen seiner Speisen allerdings oft vage. Wieviel Interpretation und Vermutungen waren für die Rezeptbegleitung nötig?
Ich betone das direkt zu Beginn des Buchs. Die Gerichte, die man darin findet, sind nicht hundertprozentig die Rezepte von Speisen, welche Goethe während seiner italienischen Reise gegessen hat. Ich habe mich davon inspirieren lassen und von dem, was er über das Essen schreibt. Und ich wünschte mir, dass Goethe diese Reise heutzutage nochmal mit mir machen und ich ihm raten könnte, was er auf den einzelnen Etappen unbedingt noch probieren müsste.
Laura Melara-Dürbeck
„Die Gaumenfreuden des jungen Goethe“
(Verlag Freies Geistesleben)
ISBN 978-3-7725-3220-7, 160 Seiten, 20 €
Weitere kulinarische Interviews
- Dieter Richter: „Italienische Wirte haben mit ihren deutschen Gästen einen Kompromiss geschlossen“
- „Italienisches Essen war uns lange fremd“ – Interview mit Dieter Richter
- Cettina Vicenzino: „Es ist schwierig, authentische italienische Küche bekannt zu machen“
- Gerd Wolfgang Sievers: „Die Venezianer dürfen mit Venedig machen, was sie wollen“
Schreibe einen Kommentar