Cettina Vicenzino zählt derzeit zu den gefragtesten Kochbuch-Autorinnen Deutschlands. In ihren Büchern lädt sie ihre Leser zu einer kulinarischen Reise durch die vielfältige Küche Italiens ein. Dafür erhielt sie unlängst den Marietta ad honorem Award der Casa Artusi, der an Personen verliehen wird, die sich auf besondere Weise für die italienische Esskultur einsetzen. Ihr neues Werk „Cucina Vegetariana“ bietet mit köstlichen Rezepten nicht nur Inspiration für vegetarische italienische Gerichte, sondern es gibt Einblick in die schillernden Facetten der Kochkultur im Bel Paese. Im Interview spricht Cettina Vicenzino über hartnäckige Vorurteile gegenüber der Cucina Italiana, den schmalen Grat zwischen Austausch und kultureller Aneignung und die Herausforderung, als italienische Kochbuch-Autorin in Deutschland bestehen zu müssen.
Dein neues Buch heißt „Cucina Vegetariana“. Es ist allerdings keine Neuauflage des gleichnamigen Kochbuchs, das du 2014 veröffentlicht hast. Warum hast du diesen Titel gewählt?
Ich hatte bei dem Titel leider kein Mitspracherecht, das war die Entscheidung des Verlags. „Cucina Vegetariana“ hört sich für mich an wie ein Nachschlagewerk. Mir geht es aber mehr um ein Lebensgefühl. Und nicht um den Ansatz, dass wir jetzt mal kein Fleisch und keinen Fisch essen. Das war nicht mein Hauptgrund, dieses Buch zu machen.
Was ist dir wichtig, wenn du Bücher über die italienische Küche schreibst?
Ich möchte über die Kultur der Gerichte erzählen, die oft einen Hintergrund oder eine Geschichte haben. In Deutschland ist oft wichtig, dass die Gerichte hauptsächlich lecker und schnell sein sollen, da sich italienische Küche komischerweise nur über dieses Image verkauft. Ob die Carbonara eine Geschichte hat oder warum sie diesen Namen trägt, ist vielen egal. Dort aber setze ich mit meinen Büchern an.
Vermeintliche Schnelligkeit – Missverständnisse über italienische Küche in Deutschland
Glaubst du, das Image der schnellen Gerichte hat etwas damit zu tun, dass italienische Küche ab den späten 1950er Jahren in Deutschland mit Dosen-Ravioli und Mirácoli vor allem als Convenience Food eingeführt wurde?
Ich habe mich auch gefragt: woher kommt das? Ich habe es noch nicht so ganz verstanden. Es gibt natürlich sehr viel Tiefkühlpizza. Man macht einfach die Packung auf und legt die Pizza in den Ofen. Und das ist dann die italienische Küche. Vielleicht liegt es wirklich an Produkten wie Tiefkühlpizza und Mirácoli.
Siehst du noch andere Gründe?
Die italienische Küche wird nicht unter Soßen versteckt. Die Teller wirken meist sehr übersichtlich. Und dann denkt man, es ist einfach und schnell. Aber nur weil sie nicht aufwendig aussehen, heißt es nicht, dass die Gerichte nicht kompliziert sind.
Ist die vermeintliche Schnelligkeit das große Missverständnis über italienische Küche in Deutschland?
Es gibt zumindest eine klare Vorstellung davon: kinderleicht, einfach, mit wenigen hochwertigen Produkten und alles muss schnell gehen. Aber das ist eigentlich überhaupt nicht Italienisch. Wenn du deine Pasta selber machst, ist das nicht in zwei Minuten erledigt. Auch eine gute Pizza und der Teig dafür dauern extrem lange. Natürlich gibt es ein paar schnelle Gerichte wie ein Caprese. Aber die Produkte dafür sind natürlich auch nicht mal eben hergestellt. Aber gut – man sieht nur das, was man schneiden und zusammenfügen muss und schon denken die Leute: so geht Italienisch. Dabei ist italienische Küche gar nicht schnell und einfach. Du brauchst Fingerfertigkeit – für die Pasta oder um irgendwas Schönes zu formen.
Image der italienischen Küche – Klischees und die Wahrnehmung authentischer Gerichte
In Deutschland hält sich eine sehr klischeehafte Vorstellung von italienischer Küche. Eine Folge davon ist, dass viele authentische Gerichte oft als weniger Italienisch betrachtet werden, wenn sie nicht so bekannt sind wie die großen Klassiker.
Es ist tatsächlich so. Nach 13 Jahren als Kochbuch-Autorin verzweifle manchmal ein bisschen daran. Die echte italienische Küche wird teilweise gar nicht als Italienisch wahrgenommen. Man kriegt keine Likes dafür. Die Gerichte sind angeblich zu kompliziert, weil viele Menschen ein genaues Bild davon haben, wie Italienisch zu sein hat. Die Vorstellung hat sich stark eingebürgert und man kommt auch als Italiener nicht mehr dagegen an. Es ist total schwierig, authentische italienische Küche bekannt zu machen. Je unbekannter ein Gericht, als umso unitalienischer empfinden es die Leute. Ich habe in „Cucina Vegetariana“ auch kurz erwähnt, dass man als Italienerin unglaublich oft belehrt wird: Man habe eigentlich keine Ahnung von der italienischen Küche. Mir wird auch oft erklärt, was Italienisch ist und was nicht. Das geht schon ein bisschen in Richtung kultureller Aneignung.
Siehst du dich als Botschafterin der italienischen Küche?
Eigentlich schon. Das war auch der Grund, warum ich mein erstes sizilianisches Kochbuch gemacht habe. Über Sizilien und die sizilianische Küche gab es sehr viele Klischees. Die Mafia, „Der Pate“ und ein paar Zitronen – das war dann Sizilien. In vielen Büchern hatte ich vorher gelesen, dass man die gefüllten Cannoli nicht selbst machen kann, weil es angeblich zu kompliziert ist. Da dachte ich mir: ich zeige jetzt, dass das alles machbar ist und dass es sizilianische Kultur fernab vom Mafia-Kult gibt.
Versuchst du auch das Bewusstsein für die Produkte zu stärken, die italienische Küche prägen?
Die Produkte und Produzenten sind es, warum ich überhaupt Rezepte mache. Sie inspirieren mich. Und Italien hat eine unglaubliche Vielfalt an Produkten. Es sollte stärker ins Bewusstsein kommen, dass Vielfalt etwas ist, was wir alle auf jeden Fall brauchen. Das Vielfältige und die Biodiversität sind gut für uns.
Inwiefern findest du es wichtig, herkunftsgeschützte DOP und IGP-Produkte zu verwenden, wenn man Italienisch kocht?
Diese Produkte geben eine Art Garantie, dass ein Gericht ungefähr den Geschmack hat, den es haben sollte. Natürlich wird auch dort viel rumgepanscht. Wenn ich sehe, was bei Lidl an IGP- und DOP-Produkten im Regal steht, weiß ich auch nicht, wie die auf diese Siegel gekommen sind. Aber es ist eine Richtlinie, an der man sich ein bisschen orientieren kann, was den Geschmack von Produkten anbelangt.
Was macht den authentischen Geschmack in der italienischen Küche aus?
Der authentische Geschmack ist mit Sicherheit das, was man aus der eigenen Familie kennt. Das ist oft sehr schwierig zu vermitteln und ich versuche, meine Rezepte so nah wie möglich daran zu bringen. Wenn man den authentischen Geschmack in Italien erleben will, muss man zu guten Trattorien oder Osterien gehen.
Kulturelle Aneignung vs. kultureller Austausch in der Küche – die Grenzen verstehen
Viele italienische Rezepte werden oft dem Geschmack eines Landes angepasst oder es werden Zutaten darin verwendet, die im Originalrezept gar nicht vorkommen. Wie stehst du dazu, wenn Menschen ohne italienische Wurzeln Gerichte mit Zutaten anpassen, die es ursprünglich in den Rezepten nicht gab, und sie dann als italienische Gerichte präsentieren?
Das ist ein schwieriges Thema, bei dem man Leuten, die nicht aus der Kultur kommen, wahrscheinlich extrem auf die Füße tritt. Es kommen dabei schnell Aggressionen auf, weil die Menschen bei dem Thema oft gar nicht richtig zuhören. Die wenigsten begreifen, dass es zwischen kulturellem Austausch und kultureller Aneignung einen Unterschied gibt.
Was macht kulturelle Aneignung für dich aus?
Bei kultureller Aneignung wertet man die Leute aus einer Kultur oft ab oder lässt sie nicht teilhaben. Es gibt kein Interesse, sich mit den Menschen auseinanderzusetzen. Die Menschen meinen dann, italienisches Essen hat nicht zwangsläufig was mit Italienern zu tun. Man bemüht sich gar nicht, die Italiener und deren Kultur zu verstehen. Stattdessen wertet man die Italiener ab, damit die aus dem Kontext raus sind und nicht kritisieren können. Aber natürlich gibt es auch viele Menschen, die sich wirklich für die Kultur interessieren.
Eine Vermischung von Einflüssen in der Küche war ja über Jahrhunderte immer wieder zu sehen. In Sizilien haben die Araber oder die französischen „Monsù“-Köche kulinarisch viele Gerichte geprägt. Wo verläuft für dich die Grenze zwischen kultureller Aneignung und kulturellem Austausch in der Küche?
Kulturelle Aneignung hat für mich etwas damit zu tun, wenn man die Menschen der Kultur abwertet oder ausgrenzt, also unsichtbar macht. Austausch ist, wenn man mit den Menschen dieser Kultur zusammen etwas macht und ihnen gegenüber Respekt hat. Wir hatten in Italien natürlich einen erzwungenen Austausch durch die ganzen Eroberer. Dadurch kam es zu einer Vermischung, aus der sich die italienische Esskultur entwickelt hat. Die Sizilianer haben zum Beispiel aus den französischen Einflüssen etwas Neues gemacht. Die haben nicht gesagt: das, was wir daraus geschaffen haben, ist jetzt ein französisches Gericht und die Franzosen haben eh keine Ahnung von ihrem Essen. So könnte man das in Deutschland auch denken: die Italiener sind nach Deutschland gekommen und hatten viel Einfluss auf das Essen. Wir können dadurch unsere deutsche Esskultur ein bisschen erweitern und bereichern. Das ist ein positiver Austausch, bei dem ich mir nicht etwas aneigne und jemanden anderen abwerte.
Die Schwierigkeit der Authentizität – Klischees vermeiden und dennoch authentisch sein
Eine Unsitte in Deutschland ist, dass man gerne anderen Ländern die Welt erklärt. Gleichzeig erhält man häufig Vorurteile über Italien am Leben. Ein Blick in die Online-Foren und Beiträge von Zeitungen reicht, wenn über Italien berichtet wird. Dort heißt es dann: Mafia, faule Menschen, für die Deutschland zahlt. Lässt sich dieser Teufelskreis der Vorurteile irgendwie brechen?
Ich muss sagen, ich habe echt die Hoffnung verloren. Ich dachte, das wäre möglich, indem man Bücher schreibt. Mein Sizilien Kochbuch war für mich sehr wichtig, da ich damit ein anderes Sizilien-Bild einbringen wollte. Auch ich habe dabei für mich viel Neues kennengelernt abseits von diesen ganzen Klischees. Ich habe im Vorwort geschrieben, dass ich diesen ganzen Mafia-Kult furchtbar finde, weil er unsere Kultur so abwertet. Aber dann habe ich eine Rezension in der „Süddeutschen“ gelesen, die zum Schluss empfahl: Jetzt mal wieder „Der Pate II“ schauen. Und da habe ich den Glauben verloren, dass man überhaupt noch was ändern kann. Ich habe gemerkt: es hat nichts gebracht. Selbst bei der „Süddeutschen“, wo man eigentlich mehr erwarten könnte.
Es scheint auch, dass man Stereotype über Italien bedienen muss. Wenn man das in Reise- oder Kochbüchern nicht macht, gilt es schnell als wenig authentisch.
Als Italienerin musst du total aufpassen, dass du bloß keine Klischees aufgreifst. Die „italienische Mamma“ gilt als solches Klischee. Wenn du als Italienerin ein Kochbuch über deine Mutter machst, bist du angeblich ein Klischee. Wenn man kein Italiener ist, wird ein Buch über „La Mamma“ bejubelt. Aber als Italienerinnen haben wir nun mal eine Mama, die meistens auch gut kochen kann. Ich versuche auch, keinen roten Cinquecento in Bücher reinzubringen. In meinem „Italia“-Buch habe ich es dennoch gewagt. In den Büchern von deutschen Autoren geht man auch davon aus, dass die Vorstellung von italienischer Küche besser vertreten ist. Der Italiener hat wahrscheinlich wieder Gerichte darin, die kein Mensch kennt und das wirkt dann weniger italienisch. Von den Engländern wie Jamie Oliver lässt man sich italienische Küche auch lieber erklären.
Vielfalt der italienischen Küche – Immer wieder Neues entdecken und erkunden
„Cucina Vegetariana“ ist dein siebtes Kochbuch. Wie gelingt es dir, dich nach so vielen erfolgreichen Italien-Kochbüchern Wiederholungen zu vermeiden?
Die italienische Küche ist so vielfältig, dass man sie nie in ihrer Gänze erkunden können wird. In jedem kleinen Ort gibt es noch ein Gericht, das kein Mensch außerhalb dieses Dorfes kennt. Man kann Wiederholungen ganz gut vermeiden, indem man vor Ort recherchiert, denn die Rezepte für diese Gerichte erfährst du nicht im Internet. Man muss mit den Menschen in Kontakt treten. Dabei erfährt man die besten Sachen.
Was würdest du in Kochbüchern gerne anders machen?
Ich persönlich mag lieber die Geschichten und Hintergründe zu Gerichten. Aber dafür ist das Bewusstsein in Deutschland leider nicht stark ausgeprägt. Hier müssen Kochbücher immer überwiegend Rezepte enthalten, am besten mit so wenig Text wie möglich. Ginge es nach mir, würde ich mit Sicherheit die Rezepte noch viel, viel näher erklären.
Verlosung
Cettina Vicenzino
„Cucina Vegetariana – Vegetarische Rezepte aus Italien“
(Dorling Kindersley)
ISBN 978-3-8310-4636-2, 240 Seiten, € 29,95
Mit freundlicher Unterstützung von Dorling Kindersley verlose ich 3 Exemplare von „Cucina Vegetariana – Vegetarische Rezepte aus Italien“ von Cettina Vicenzino. Wenn du das Buch gewinnen möchtest, schreibe mir eine E-Mail an verlosung@dishes-delicious.de. Außerdem freue ich mich natürlich, wenn du mir auf Facebook und – jetzt neu! – Instagram folgst. Die Verlosung endet am 30.7.2023, hier findest du die vollständigen Teilnahmebedingungen.
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Vera
Vielen Dank für das wunderbare Kochbuch Cucina Vegetariana, das gestern per Post kam! Über den Gewinn freue ich mich sehr. Mit dem Buch werde ich mir einen gemütlichen Winter machen. Zum Glück kann ich alle 14 Tage frisches Gemüse aus Apulien direkt vom Lastwagen kaufen. Auf Bestellung bekomme ich dort auch alle anderen Lebensmittel, die die italienische Küche so aromatisch machen. Das Buch wird mich lange begleiten.
Nochmals vielen Dank!