Endlich geht es los! Nachdem ich viel Zeit hatte, die Sehenswürdigkeiten von Spoleto ausführlich kennenzulernen, schwinge ich mich selbst aufs Fahrrad für eine Tour entlang der ehemaligen Bahnstrecke von Spoleto nach Norcia. Viel Spott und Häme habe ich dafür im Vorfeld von meiner Familie kassiert. Denn ich bin kein großer Radfahrer. Doch ich wollte wissen, ob eine Radtour durch Umbrien auch Menschen begeistern kann, die sich sonst von Mountainbikes und Trekking-Rädern fernhalten.
Zu meiner Ehrenrettung muss ich allerdings sagen, dass ich vor allem deshalb das Fahrrad meide, weil ich in einer der fahrradunfreundlichsten Städte Deutschlands wohne. Die Stadt Essen landete 2022 beim Städteranking mit der Ortsgröße über 500.000 Einwohnern auf dem letzten Platz. Fahrradfahren macht in Essen keinen Spaß, weswegen ich meinen alten, rostigen Drahtesel vor zehn Jahren entsorgt habe.
Mit entsprechend viel Belustigung hat meine Familie deshalb auf meine Ankündigung reagiert, dass ausgerechnet ich in Spoleto das große Radsport-Event Spoleto Norcia in MTB besuchen werde und auf Fahrrad-Tour durch die Berge und Täler Umbriens gehe. Aber ich will für mich (und für andere ungeübte Fahrradfahrer) klären, ob Fahrrad-Tourismus auch etwas für einen Radmuffel wie mich ist oder ob ich Italien lieber weiterhin auf anderem Wege erkunde.
Mit dem E-Bike durch Umbriens atemberaubende Landschaften
Als einzige mittelitalienische Region ohne Zugang zum Meer hat Umbrien einen schweren Stand im Ringen um Touristen. Doch Umbrien muss sich nicht verstecken. Viele sehenswerte Borghi, kleine Städtchen und vor allem die wunderschöne Natur machen die Region zu einem Reiseziel abseits des Massentourismus. „Slow Tourism“ und Aktivurlaub sind zwei bewährte Ideen, auf die man in dieser Region Italiens setzt. Auf etlichen Radwegen entlang des Apennin-Rückens kann man die bergige Landschaft Umbriens entdecken. Für Radfahrer und Outdoor-Fans ist es ein Paradies, in dem man relativ ungestört unterwegs sein kann.
Von Spoleto aus führen Radwege durch die ursprüngliche Natur ins Valnerina, nach Norcia und in den Nationalpark Monti Sibillini. Auf einem weiteren Radweg kannst du von Spoleto Richtung Norden ins berühmte Assisi fahren, vorbei an vielen kleinen mittelalterlichen Dörfern.
Das große Radsport-Event: Was ist die SpoletoNorcia in MTB?
Vor allem Anfang September dreht sich in Spoleto alles rund ums Radfahren. Die SpoletoNorcia in MTB ist das größte Radsport-Event in Mittel- und Süditalien und zieht jedes Jahr Tausende Fahrradfahrer aus ganz Italien und aus dem Ausland an. Auf der alten Bahntrasse zwischen Spoleto und Norcia radeln Amateure wie Profis. Mehrere Strecken stehen zur Wahl – je nachdem, was man der eigenen Fitness zutraut, ob man die Fahrradtour durch Umbrien eher als Familienausflug unternimmt oder ob man anspruchsvoll offroad über Stock und Stein fahren möchte.
Die rund 51 km lange Eisenbahnstrecke zwischen Spoleto und Norcia wurde 1926 eingeweiht und galt als ein Meisterwerk der damaligen Ingenieurskunst. Trotzdem wurde sie bereits 1968 wieder stillgelegt – unter großen Protesten der Bevölkerung. Mittlerweile wird die Strecke touristisch genutzt. Als Fahrradweg durch die wildromantische Natur hat man ihr neues Leben eingehaucht. Sie führt bergauf und bergab durch das satte Grün des Valnerina, über insgesamt 24 imposante Brücken und Viadukte sowie durch 19 stillgelegte Eisenbahntunnel. Beim „Oscar del Cicloturismo“ 2015 erhielt die Route die Auszeichnung als bester Radweg Italiens.
Zum zehnten Jubiläum der SpoletoNorcia in MTB ist das Sportevent 2023 um einen Marathon-Lauf erweitert worden. Wie bei den Fahrradrouten stehen beim „SN Trail Run“ sowohl kürzere Strecken für weniger Trainierte als auch eine komplette Marathon-Länge zur Auswahl. Für beide Events kann man sich jeweils ab Februar anmelden, wobei frühe Vögel eine deutlich niedrigere Teilnahmegebühr zahlen. Für eine Teilnahme am „SN Trail Run“ zahlte man 2024 – je nach Anmeldedatum und gewählter Strecke – zwischen 15 und 45 Euro, für die „SpoletoNorcia in MTB“ zwischen 45 und 75 Euro.
Weniger Sportliche oder all jene, die ihre Liebsten einfach nur beim Start anfeuern wollen, können sich über drei Tage hinweg bei Degustationen kulinarisch verwöhnen lassen, an einem Tourismus-Programm mit Stadtbesichtigungen teilnehmen oder einer der Diskussionsrunden zu Themen wie Radsport oder nachhaltigem Tourismus lauschen.
Historische Bahnstrecke als Radweg: Die Route von Spoleto nach Norcia
Noch bevor sich weit über 1000 Radfahrer auf den Weg machen, ist es am Tag zuvor an der Zeit, mich aufs Rad zu schwingen und zusammen mit einer Gruppe Journalisten auf Probefahrt zu gehen. Als Radtour-Anfänger, der seit Jahren nicht mehr auf einem Fahrrad gesessen hat, bin ich erleichtert, dass wir an diesem sonnigen Spätsommertag nicht gleich die „Classic“- oder „Hard“-Strecke der SpoletoNorcia in MTB fahren. Beide haben eine Länge von rund 60 Kilometern und der Höhenunterschied beträgt bis zu 1900 Metern. Kein Ausflug für Untrainierte und Einsteiger.
Stattdessen nimmt unsere Gruppe die Familienroute mit einer Strecke von nur 15 Kilometern. Sie verläuft östlich von Spoleto über die Eisenbahnstrecke und endet am alten Bahnhäuschen von Caprareccia. Der Höhenunterschied beträgt lediglich 200 Meter mit einer Steigung von etwa vier Prozent. Das scheint machbar zu sein und klingt nach nur mildem Muskelkater.
Als ich mein Leihfahrrad in Empfang nehme, verfliegt auch die Befürchtung vor dem Muskelkater. Es sind E-Bikes. Eine weitere Premiere für mich. Wird schon schiefgehen… und macht irre viel Spaß. Kaum sitze ich auf dem elektrischen Fahrrad, bin ich begeistert. Los geht’s!
Tunnel, Viadukte und endlose Aussichten: Höhepunkte der Spoleto-Norcia-Route
Am Stadtrand von Spoleto führt ein schmaler Weg auf die ehemalige Eisenbahntrasse nördlich des Monteluco. Sachte unterstützt vom E-Bike geht es gemütlich bergauf über den grün gesäumten Schotterweg durch eine postkartentaugliche Szenerie aus dem Bilderbuch. Die Umgebung von Spoleto geizt nicht mit Reizen. Ich erspähe Olivenhaine, fahre durch üppige Wälder. Lichtet sich die Vegetation, so tauchen am Horizont sanfte Hügel auf. Wunderschön. Umbrien wirkt hier wie Italiens versteckte Schatzkammer.
Vor allem an den Viadukten bieten sich immer wieder bemerkenswerte Aussichten auf die Landschaft. Ich radel durch die zwei kleinen Cortaccione-Tunnel, bis unterhalb des Collelungo das große Caprareccia-Viadukt in den Blick rückt. Immer weiter bergauf, mit nur wenig Mühen, kommt unsere Gruppe bald schon auf der hohen Eisenbahnbrücke an, die ein paar hundert Meter zuvor noch so weit weg schien. Von hier, dem Ziel der Family-Tour, zeigt sich eines der schönsten Panoramen mit beeindruckenden Ausblicken auf das umliegende Tal.
Anstatt umzukehren, geht es für meine Gruppe aber noch weiter. Denn nur wenige Minuten hinter dem Caprareccia-Viadukt beginnt eines der Highlights auf der Fahrradstrecke zwischen Spoleto und Norcia: der Caprareccia-Tunnel. Er ist fast 2000 Meter lang und damit einer der längsten Fahrradtunnel in Europa. Da er nicht beleuchtet ist, musst du unbedingt ein externes Licht mitnehmen. Andernfalls wird es ganz schön finster, bis du das Licht am Ende des Tunnels erblickst.
Die geübteren Fahrradfahrer aus meiner Gruppe ziehen sich noch eine Windjacke an, bevor sie im dunklen Schlund des Tunnels verschwinden. Ich dagegen denke mir, dass bei knapp 30 Grad ein wenig Abkühlung nicht schaden kann und verschwinde ebenfalls in der Dunkelheit. Auf halbem Wege wird es im Tunnel doch recht frisch. Hoffentlich frieren die Fledermäuse, die hier leben, weniger als ich. Trotzdem ist es ein tolles Erlebnis, durch diesen alten Eisenbahntunnel mit dem Fahrrad zu pesen.
Zurück nach Spoleto: Die Herausforderung der Schotterabfahrt
Nach einer Rast und einem Gruppenfoto am anderen Ende des Caprareccia-Tunnels geht es auf gleicher Strecke wieder zurück. Spätestens jetzt wünsche ich mir auch eine Jacke. Sobald die zwei Kilometer im Dunklen geschafft sind, übernimmt wieder die Sonne. Aufwärmen binnen einer Minute und dann heißt es aufpassen: All das, was ich zuvor bergauf geradelt bin, fahre ich nun bergab. Mit dem schweren E-Bike auch ohne Treten in immer größerer Geschwindigkeit. Über die Schotterstrecke keine leichte Aufgabe für mich nach so langer Fahrrad-Abstinenz.
Macht aber trotzdem einen Heidenspaß und mit sanftem Bremsen und einer Schippe Glück komme ich wieder heil in Spoleto an. Nicht mal zwei Stunden Fahrtzeit habe ich für die Strecke bei gemütlichem Treten gebraucht. Eine perfekte Radtour für wenig geübte Radfahrer wie mich.
Nach der Tour durch Umbrien: Fahrradfahren neu entdeckt?
Zeit für ein Fazit. Hat mich die Leidenschaft fürs Fahrradfahren nach diesem Erlebnis gepackt? Werde ich künftig nur noch auf dem Bike durch Italien gondeln?
Ich fürchte, der Giro d’Italia wird weiterhin ohne mich stattfinden. Und mein Hinterteil tut nach mehr als 20 Kilometern doch etwas weh. Aber ich bin begeistert! Denn ich habe gemerkt: auf dem Fahrrad lässt sich die grenzenlose Schönheit der italienischen Landschaft viel besser genießen als im Auto hinter dem Steuer. Und auf dem E-Bike macht das Fahrradfahren in Umbrien mehr Spaß, als ich es je gedacht hätte. So wird es sicherlich nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich in Italien mit dem Fahrrad unterwegs bin. Meine Tage als Fahrradmuffel scheinen jedenfalls gezählt zu sein. Wo ist der nächste Fahrradverleih?
Tipp: Ein Fahrrad mieten in Spoleto
Ein eigenes Fahrrad ist in Spoleto keine Voraussetzung, um auf der alten Bahnstrecke zu fahren. Sowohl bei den Veranstaltern der SpoletoNorcia in MTB als auch bei Cicli Scocchetti kannst du dir ganzjährig City-, Trekking- und Mountainbikes mieten. Es gibt reguläre Fahrräder, aber auch E-Bikes. Wenn du eine Tour planst, unterstützt dich die Crew der SpoletoNorcia auch mit GPX-Tracks der einzelnen Routen. Und wenn dir irgendwann die Luft ausgeht: von einigen Dörfern auf der Strecke verkehren Busse nach Spoleto und Norcia, die auch die Bikes transportieren.
La SpoletoNorcia Bike Rental, Terminal Le Mattonelle, Via Enrico Mattei, Spoleto
Cicli Scocchetti, Via Guglielmo Marconi 53, Spoleto
Mein Dank geht an die Italienische Handelskammer für Deutschland sowie die Camera di Commercio dell’Umbria für die Organisation und Einladung zur Reise nach Spoleto. Der Inhalt dieses Artikels ist davon unbeeinflusst und spiegelt genauso wie die Berichte über meine selbstorganisierten Reisen meine eigene Meinung wider. Für den Beitrag erhalte ich keine Vergütung.
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